Mit Erreichen der Volljährigkeit ist insbesondere nicht mehr auf Teil A Nr. 5 d bb VMG abzustellen, wonach bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die für sich allein einen GdB von mindestens 50 bedingen, und bei anderen gleich schweren, im Kindesalter beginnenden Verhaltens- und emotionalen Störungen mit lang andauernden erheblichen Einordnungsschwierigkeiten regelhaft Hilflosigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen ist. Stattdessen muss bei dem Übergang ins Erwachsenenalter berücksichtigt werden, dass die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit auch entfallen können, wenn behinderte Jugendliche infolge des Reifungsprozesses – etwa nach Abschluss der Pubertät – ausreichend gelernt haben, die wegen der Behinderung erforderlichen Maßnahmen selbstständig und eigenverantwortlich durchzuführen, die vorher von Hilfspersonen geleistet oder überwacht werden mussten (vgl. Teil A, Nr. 5 e VMG).

Dies bedeutet aber nicht, dass es sich hierbei um einen Automatismus handeln würde. Der Wegfall der Voraussetzungen des Merkzeichens H bei Eintritt der Volljährigkeit bedarf vielmehr stets einer Einzelfallprüfung. Verbleibende Zweifel gehen in Anfechtungsfällen der vorliegenden Art zu Lasten des Beklagten, weil dieser sich – anders als wenn eine erstmalige Erteilung des Merkzeichens beantragt wäre – auf eine eingetretene Änderung der Verhältnisse beruft.


Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
16.11.2022
L 13 SB 120/21
Juris



Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung der Merkzeichen H und B durch den Beklagten.

Der am G. geborene Kläger lebt im Haushalt seiner Eltern in H.. Seit 2018 studiert er Informatik an der etwa 30 Kilometer entfernten Hochschule I.. Zuvor besuchte er die Fachoberschule in J..

Mit Bescheid vom 1. April 2016 hatte der Beklagte bei dem Kläger aufgrund einer Entwicklungsstörung, seelischen Störung und Verhaltensstörung einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt und die Merkzeichen H und B zuerkannt.

Im März 2018 machte der Kläger bei dem Beklagten eine Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes geltend. Bislang seien seine Kommunikationsprobleme und seine Angst vor Veränderungen fälschlicherweise als Sozialphobie betitelt worden. Tatsächlich sei hierfür ein Asperger-Syndrom ursächlich. Er leide weiterhin an Depressionen und werde nunmehr mit Antidepressiva behandelt. Ein von seiner Pflegeversicherung in Auftrag gegebenes Gutachten der K. vom 17. April 2018 (im Folgenden: Pflegegutachten) fügte er bei. Hiernach war bei dem Kläger eine Pflegebedürftigkeit mit Pflegegrad 2 empfohlen worden. Ausweislich eines Befundberichts des den Kläger seit 2016 behandelnden Kinder- und Jugendarztes L. war bei dem Kläger im März 2018 ein Asperger-Autismus fremddiagnostiziert worden. Durch die psychotherapeutische und medikamentöse Unterstützung sei es dem Kläger möglich, den Alltagsanforderungen einigermaßen zu entsprechen. Durch seine Eltern erfahre er eine wichtige Alltagsstrukturierung. Er gerate jedoch immer wieder in zwanghaftes Denken und Grübeln, sei leicht irritierbar und suggestibel. Nach den abgelegten Abiturarbeiten fühle er sich nunmehr weniger gestresst. Der Ärztliche Dienst des Beklagten ging unter Würdigung der vorliegenden Unterlagen davon aus, dass ein Asperger-Syndrom zwar berücksichtigt werden könne. Auswirkungen auf den festgestellten GdB ergäben sich hierdurch hingegen nicht. Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen aufgrund der mittlerweile eingetretenen Volljährigkeit des Klägers nicht mehr vor.

Daraufhin leitete der Beklagte ein Anhörungsverfahren wegen der beabsichtigten – hier streitgegenständlichen – Entziehung der Merkzeichen H und B ein, in dessen Verlauf verschiedene Befundberichte eingeholt und medizinische Unterlagen vorgelegt wurden. Der Kläger reichte einen Befundbericht seiner ihn seit Mai 2017 behandelnden Diplom-Psychologin H. ein, wonach bei dem Kläger autismustypische Defizite in Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion sowie Besonderheiten im Denken bei gut durchschnittlicher Grundintelligenz vorlägen. Er tue sich schwer damit, unterschiedliche komplexe Alltagssituationen zu überschauen, zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. Reizüberflutungen im öffentlichen Raum könne er schwer ertragen, was zu umfänglichem Vermeidungsverhalten führe. Bei komplexen Anforderungen im Schul- und Leistungsbereich gerate er schnell unter Druck, verliere wertvolle Zeit und bleibe teilweise unter seinem Leistungsvermögen. Er habe massiv eingeschränkte Interessen und Freizeitaktivitäten. Sein soziales Leben finde im Wesentlichen im familiären Rahmen statt. Außerhalb benötige er die Begleitung und Vergewisserung seiner Eltern, weil er erhebliche Ängste vor unberechenbaren, teils auch erwartbaren Situationen und Anforderungen habe. Er erhalte Psychotherapie und sei medikamentös eingestellt. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie M., bei dem sich der Kläger erstmalig im Februar 2019 vorgestellt und der die Diagnose Autismus bestätigt hatte, gab an, dass sich der Kontakt schüchtern, bisweilen abweisend gestalte. Auf direkte Ansprache reagiere der Kläger dann aber freundlich und zeige eine ausreichende Schwingungsfähigkeit. Er sei vollorientiert, im formalen Denken stark zentriert auf die aktuelle Situation. Konzentration und Aufmerksamkeit seien gemindert. Im März 2019 wurde dem Kläger Eingliederungshilfe in Form von auf ein Jahr befristeter Übernahme der Therapiekosten im Autismus-Therapiezentrum I. bewilligt. Dieses Begehren hatte die Diplom-Psychologin H. u. a. mit einem ausführlichen Schreiben vom 2. März 2018 unterstützt, in dem sie auf Angaben der Eltern des Klägers und eine mit dem Kläger durchgeführte standardisierte Testdiagnostik verwies. Die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gesellschaft sei erheblich beeinträchtigt. Außerhalb seiner Familie habe er keine sozialen Kontakte. Er lebe absolut zurückgezogen und abgeschirmt.

Der Beklagte hielt an der beabsichtigten Entziehung fest und hob seinen Bescheid vom 1. April 2016 hinsichtlich der festgestellten Merkzeichen H und B mit Wirkung zum 1. August 2019 auf (Bescheid vom 25. Juli 2019).

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er war der Auffassung, dass vorliegend keine Einzelfallprüfung stattgefunden habe. Tatsächlich benötige er erhebliche Unterstützungsleistungen. Sein Tagesablauf sei strikt strukturiert. Abweichungen würden zu einer drastischen Überforderung führen. Dies wiederum bringe eine akute Verschlechterung der Symptomatik auf psychiatrischem Fachgebiet mit sich. Er sei dann unmittelbar auf die direkte Unterstützung durch Dritte, vor allem seiner Eltern, angewiesen. Ohne deren Hilfe sei er hilflos und befinde sich in einer unmittelbaren Notsituation. Auch seien Konzentration und Aufmerksamkeit vermindert. Der Antrieb und die Psychomotorik seien gehemmt. Er tue sich schwer, unterschiedliche komplexe Alltagssituationen zu überschauen, zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. Reizüberflutungen im öffentlichen Raum würden zu einem Vermeidungsverhalten führen. Öffentliche Verkehrsmittel könne er selbstständig nur auf gewohnten Strecken nutzen. Ansonsten benötige er eine Begleitung. Er verwies auf einen beigefügten Bericht des Psychiaters und Psychotherapeuten M., in welchem dieser bestätigte, dass es bei dem Kläger bereits bei kleineren Abweichungen seiner Tagesroutine zu drastischen Überforderungssituationen komme und er dann auf die direkte Unterstützung vor allem seiner Eltern angewiesen sei. Ohne deren Einschreiten finde sich der Kläger in solchen Situationen nicht mehr zurecht und sei dann in einer erheblichen Notsituation. Daher seien dem Kläger die Merkzeichen B und H zuzuerkennen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2019 wies der Beklagte den Widerspruch ohne weitere Ermittlungen zurück. Eine nochmalige Überprüfung der Angelegenheit habe zu keinem anderen Ergebnis geführt. Insbesondere die Feststellung des Pflegegrades 2 führe regelhaft nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens H. Auch das Merkzeichen B könne nicht zuerkannt werden, da sich aus den vorliegenden Unterlagen kein Hinweis darauf ergebe, dass der Kläger bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere dauernd fremder Hilfe bedürfe.

Hiergegen hat der Kläger am 23. Dezember 2019 Klage bei dem Sozialgericht (SG) Stade erhoben. Im Wesentlichen hat er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Ergänzend hat er unter Beifügung eines Berichts des HNO-Arztes Dr. N. ausgeführt, dass im März 2020 eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung diagnostiziert worden sei. Die Vorlesungen an der Hochschule seien für ihn sehr anstrengend. Regelmäßig bekomme er nicht alles mit und müsse dies dann nacharbeiten, so dass sich seine Studienzeit voraussichtlich um mindestens zwei Semester verlängere.

Das SG Stade hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Neurologen und Psychiaters Dr. O., das dieser nach einer Untersuchung des Klägers am 29. März 2021 erstattet hat. Der Kläger hat hier angegeben, in der elften Schulklasse ein Praktikum in einem kleinen Unternehmen mit IT-Bezug absolviert zu haben. Dies sei der Grund für die Wahl seines Studienfachs gewesen. Den Führerschein habe er 2017 erworben. Er habe länger gebraucht und mit dem ersten Fahrlehrer Probleme gehabt. Er habe schon andere Autos geschnitten. 2020 habe es einen unverschuldeten Unfall gegeben. Seit der zwölften Schulklasse sei er selbst mit seinem Pkw oder als Mitfahrer zur Schule gefahren. Auch zur Universität sei er – vor der Corona-Pandemie – selbst oder mit dem Bus gefahren. Seit April 2020 laufe praktisch alles online. In der Universität gebe es zwei Kommilitonen, die er als gute Freunde bezeichnen würde. In seiner Freizeit spiele er am Computer. Er werde unruhig und verspanne sich, wenn Unerwartetes passiere. Er benötige dann sehr viel Energie, um sich zu beruhigen. Seine Eltern oder seine Bekannten an der Hochschule könnten ihm in solchen Situationen helfen. Zu Hause füttere er die Haustiere und kümmere sich um sie. Sonstige Hausarbeiten würden zwischen den Familienmitgliedern aufgeteilt.

Zum psychischen Befund hat der Sachverständige ausgeführt, dass der Kläger höflich und kooperativ bei guter Rapportfähigkeit gewesen sei. Der Kontakt sei herstellbar gewesen. Der Kläger habe durchweg ruhig, klar und differenziert, dabei ganz überwiegend ohne erkennbare mimische oder emotionale Regung berichtet. Im Rahmen seiner Beurteilung hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass die Zuerkennung der Merkzeichen H und B rückblickend wohl fehlerhaft gewesen sei. Auch die Einordnung mit einem Pflegegrad 2 könne anhand der Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Insgesamt bestünden Widersprüche bezüglich der seitens der Behandler bescheinigten Einschränkungen und der realen Alltagsbewältigung. In dem Bericht der Diplom-Psychologin P. vom 2. März 2018 seien schon keine konkreten Angaben zu Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag enthalten. Die Behauptung des Herrn M., der Kläger sei in Krisensituationen unmittelbar auf die direkte Unterstützung seiner Eltern angewiesen, da er sich ohne deren Hilfe nicht zurechtfinde, würde im Grunde dazu führen, dass der Kläger täglich von einem Elternteil zur Universität oder im Auto begleitet werden müsse, was tatsächlich aber nicht erforderlich sei. Soweit der HNO-Arzt Dr. N. zuletzt eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung diagnostiziert habe, müsse berücksichtigt werden, dass es sich hierbei um eine HNO-fachfremde Diagnose einer Entwicklungsstörung handele. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass gemäß den Angaben des Klägers und den vorliegenden Unterlagen von einer altersgemäßen eigenständigen Alltagsbewältigung auszugehen sei. Seit der letzten Feststellung im Jahr 2016 hätten sich die Gesundheitsstörungen gebessert. Störungen des Sozialverhaltens würden streng genommen nicht mehr vorliegen. Diese Besserung sei bereits in der elften oder zwölften Klasse, spätestens jedoch mit Abschluss des Gymnasiums eingetreten. Ein GdB von 50 sei daher ausreichend. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen lägen nicht vor.

Auf Antrag des Klägers hat das SG Stade sodann ein Sachverständigengutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholt. Dieses hat der Allgemeinmediziner Dr. Q. nach einer sechsstündigen Untersuchung des Klägers unter Anwesenheit dessen Mutter am 1. September 2021 erstattet. Dr. M. kommt zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger sehr tief greifende Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorlägen, für die ein GdB von mindestens 80 gerechtfertigt, ein GdB von bis zu 100 möglich sei. Die Verrichtungen der Grundpflege beherrsche der Kläger durchweg selbstständig. Es seien nur Impulsgaben bei einem im Laufe des Tages eintretenden zunehmenden Antriebsmangel erforderlich, hingegen keine Anleitung, keine Unterstützung, keine teilweise oder gar vollständige Übernahme durch Pflegepersonen. Zwar bedürfe der Kläger der ständigen telefonischen Rufbereitschaft einer Bezugsperson zur Beherrschung von Panikattacken während der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Dies entspreche jedoch keiner häufigen und plötzlich erforderlichen Hilfe wegen akuter Lebensgefahr. Allerdings sei der Kläger bei der Kommunikation weitgehend auf Hilfe der Familie und Kommilitonen angewiesen. Er könne von sich aus keine Kommunikation beginnen oder aufrechterhalten und adäquat gestalten. Sie müsse vielmehr von außen an ihn herangetragen werden. Bis zu welchem zeitlichen Umfang sich diese Hilfestellung täglich im Durchschnitt summiere, ob mehr oder weniger als zwei Stunden, lasse sich mangels Protokollierung der Kommunikation nicht sicher bestimmen, zumal sie sich auf mehrere Personen verteile. Wenn eine diesbezügliche Hilfestellung einen Umfang von etwa zwei Stunden erreichen würde, könne sich ein besonderer wirtschaftlicher Wert dadurch begründen lassen, dass der Kläger ohne entsprechendes Kommunikationstraining wohl nicht fähig wäre, später beruflich Fuß zu fassen. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1993 (9/9a RVs 1/91) sei die Fähigkeit der ständigen Kommunikation eine der wesentlichen Verrichtungen des täglichen Lebens. Die Kommunikationsfähigkeit als Basis jeder gesellschaftlichen Aktivität dürfe nicht vernachlässigt werden. Zwar habe der Entscheidung ein Fall von Gehörlosigkeit zugrunde gelegen. Ob dies hier übertragbar sei, müsse wohl höchstrichterlich entschieden werden. Hinsichtlich des Merkzeichens B hat Dr. M. ausgeführt, dass der Kläger behinderungsbedingt auf eine einzige Fahrstrecke beschränkt sei. Auf die Vielzahl anderer Ziele und andere öffentliche Verkehrsmittel habe er hingegen aufgrund seiner gestörten Orientierungsfähigkeit keinen eigenständigen Zugriff.

Mit Urteil vom 4. November 2021 hat das SG Stade die Klage abgewiesen. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres hätten sich die erforderlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H geändert. Weder erfülle der Kläger ein Regelbeispiel, wonach das Merkzeichen H zuzuerkennen sei, noch sei die Schwere seiner Behinderung mit einem solchen vergleichbar. Auch der Sachverständige Dr. Q. habe keinen höheren GdB als 70 feststellen können und damit die Zuerkennung der begehrten Merkzeichen abgelehnt.

Gegen das ihm am 15. November 2021 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Dezember 2021 Berufung eingelegt und sein Begehren weiterverfolgt.

Der Kläger nimmt Bezug auf das Sachverständigengutachten des Dr. Q.. Das SG Stade habe sich hiermit nicht auseinandergesetzt. Vielmehr habe es das Gutachten auf einen einzelnen und aus dem Kontext gerissenen Satz reduziert. Zudem verkenne das SG, dass die Feststellung eines GdB von mehr als 70 nicht Voraussetzung für die Zuerkennung des Merkzeichens H sei. Jedenfalls habe der Sachverständige Dr. M. dargelegt, dass die seelische Behinderung des Klägers durchaus mit körperlichen und geistigen Behinderungen gleichzusetzen sei, die regelhaft mit einem GdB von mindestens 80 bis 100 zu bewerten sind. Insbesondere im Bereich Kommunikation sei der Kläger weitestgehend auf Hilfe angewiesen. Insoweit sei die Mutter des Klägers zu Art und Umfang der täglich erforderlichen Hilfestellungen zeugenschaftlich zu vernehmen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des SG Stade vom 4. November 2021 und den Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt nach Lage der Akten,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf sein bisheriges Vorbringen und erachtet die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Das Gericht hat den Beteiligten mitgeteilt, dass über den Rechtsstreit durch Beschluss gem. § 153 Abs. 4 S. 1 SGG entschieden werden soll, und Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Der Kläger hat mitgeteilt, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei im Lichte des Gebots eines fairen Verfahrens und des Rechts auf Gehör angezeigt. Das Gericht hat den Beteiligten mitgeteilt, an einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 S. 1 SGG festhalten zu wollen.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der Beschlussfassung gewesen sind.


Gründe

Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten in Anwendung von § 153 Abs. 4 S. 1 SGG durch zurückweisenden Beschluss der Berufsrichter des Senats, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Insbesondere hat im erstinstanzlichen Verfahren bereits eine mündliche Verhandlung stattgefunden, in der sich die Beteiligten äußern konnten. Auch enthält das Berufungsvorbringen keinen wesentlichen neuen Sachvortrag, sondern nimmt erneut Bezug auf die Ausführungen des nach § 109 SGG beauftragten Sachverständigen Dr. Q..

Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143 SGG), aber nicht begründet. Das SG Stade hat mit Urteil vom 4. November 2021 die Klage zu Recht abgewiesen. Die nach § 54 Abs. 1 S. 1 SGG statthafte Anfechtungsklage ist zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Entziehung der Merkzeichen H (unter 1.) und B (unter 2.) ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Maßgeblicher Prüfungszeitpunkt für die Begründetheit der Klage ist dabei der Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens, mithin die letzte Behördenentscheidung (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage, 2020, § 54 Rn. 33) – hier der Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2019 –. Eine spätere Änderung der Sach- oder Rechtslage ist grundsätzlich unbeachtlich. Als Ausnahme gilt der Fall, dass sich der Kläger gegen einen belastenden Verwaltungsakt mit Dauerwirkung wendet und dieser nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens rechtswidrig wurde (vgl.: BSG, Urteil vom 15. November 2016 – B 2 U 19/15 R – juris Rn. 18). Ein Aufhebungs- oder Entziehungsbescheid im Schwerbehindertenrecht ist jedoch kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, so dass es bei dem o. g. Grundsatz bleibt, dass auf den Zeitpunkt der angefochtenen Verwaltungsentscheidung abzustellen ist (BSG, Urteil vom 12. November 1996 – 9 RVs 5/95 – juris Rn. 16).

Die erforderlichen formellen Voraussetzungen für die Aufhebung des Ausgangsbescheides sind erfüllt, insbesondere ist dem Aufhebungsbescheid eine ordnungsgemäße Anhörung gemäß § 24 Abs. 1 SGB X vorausgegangen.

Auch die materiellen Voraussetzungen der Rechtsgrundlage des § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X lagen vor. Hiernach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Von einer solchen ist im Schwerbehindertenrecht bei einer Änderung im Gesundheitszustand des behinderten Menschen auszugehen, wenn aus dieser entweder die Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt, während das Hinzutreten weiterer Funktionsstörungen mit einem Einzel-GdB von 10 regelmäßig ohne Auswirkung auf den Gesamt-GdB bleibt (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 SB 3/12 R – juris Rn. 26 m. w. N.), oder wenn der Änderung eine Relevanz für die Feststellung von Merkzeichen zukommt. Insoweit kommt als maßgeblicher Bezugspunkt für die Annahme einer Änderung auch der Eintritt eines bestimmten Lebensalters wie der Volljährigkeit in Betracht (vgl. BSG, Urteil vom 12. November 1996 – 9 RVs 18/94 – juris Rn. 15).

Die tatsächlichen Verhältnisse haben sich in diesem Sinne gegenüber der letzten Feststellung im Jahr 2016 zur Überzeugung des Senats nachweisbar geändert. 1.

Grundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H sind § 152 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz [BTHG], BGBl. I 2016, 3234 ff.; zuvor: § 69 Abs. 4 SGB IX a. F.) in Verbindung mit § 33b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) in der Fassung vom 26. Juni 2013 und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Schwerbehinderten-Ausweisverordnung (SchwbAwV). Gemäß § 33b Abs. 6 Satz 3 EStG ist eine Person hilflos im Sinne dieser Regelungen, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf. Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder einer Anleitung zu den in Satz 3 dieser Vorschrift genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist (§ 33b Abs. 6 S. 4 EStG). Dieser Begriff der Hilflosigkeit geht auf Umschreibungen zurück, die von der Rechtsprechung des BSG im Schwerbehindertenrecht bezüglich der steuerlichen Vergünstigung und im Versorgungsrecht hinsichtlich der gleich lautenden Voraussetzungen für die Pflegezulage nach § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) entwickelt worden sind. Dabei hat sich der Gesetzgeber bewusst nicht an den Begriff der Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14, 15 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) angelehnt (vgl. BSG, Urteile vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 1/02 R – juris Rn. 11 und vom 24. November 2005 – B 9a SB 1/05 R – juris Rn. 13).

Bei den gemäß § 33b Abs. 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren. Dazu zählen zunächst die seit 1995 auch von der Pflegeversicherung (vgl. § 14 Abs. 4 SGB XI a. F.; nunmehr gilt seit dem 1. Januar 2017 die Neufassung des § 14 SGB XI gemäß dem Zweiten Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften – Zweites Pflegestärkungsgesetz – vom 21. Dezember 2015; BGBl. 2015 Bd. I, S. 2424 ff.) erfassten Bereiche der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Diese Bereiche werden unter dem Begriff der sogenannten Grundpflege zusammengefasst (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1, § 15 Abs. 3 SGB XI a. F.; § 37 Abs. 1 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch). Hinzu kommen jene Verrichtungen, die in den Bereichen der psychischen Erholung, geistigen Anregung und der Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen, Fähigkeit zu Interaktionen) anfallen. Nicht vom Begriff der Hilflosigkeit umschlossen ist der Hilfebedarf bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen (vgl. BSG, Urteile vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 1/02 R – juris Rn. 12 und vom 24. November 2005 – B 9a SB 1/05 R – juris Rn. 15). Bei psychisch oder geistig behinderten Menschen liegt Hilflosigkeit auch dann vor, wenn sie bei zahlreichen Verrichtungen des täglichen Lebens zwar keiner Handreichungen bedürfen, sie diese Verrichtungen aber infolge einer Antriebsschwäche ohne ständige Überwachung nicht vornähmen. Die Aufwertung derartiger Beeinträchtigungen im Rahmen der Pflegeversicherung durch die Bestimmungen des § 14 Abs. 2 Nr. 3 SGB XI n. F. – bezogen auf das Modul „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“ – seit dem 1. Januar 2017 bleibt somit im Rahmen der Feststellung des Merkzeichens H ohne wesentliche Auswirkungen, da eine entsprechende Berücksichtigung hier auch bereits vor der Gesetzesänderung im SGB XI erfolgt ist. Die ständige Bereitschaft ist z. B. anzunehmen, wenn Hilfe häufig und plötzlich wegen akuter Lebensgefahr notwendig ist (vgl. Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung - Versorgungsmedizinische Grundsätze - [VMG], Teil A Nr. 4 c).

Die tatbestandlich vorausgesetzte „Reihe von Verrichtungen“ kann regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt, die einen Hilfebedarf in erheblichem Umfang erforderlich machen. Die Beurteilung der Erheblichkeit orientiert sich an dem Verhältnis der dem Beschädigten nur noch mit fremder Hilfe möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe bewältigen kann. In der Regel wird dabei neben der Zahl der Verrichtungen auf den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein, wobei Maßstab für die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie der tägliche Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen ist. Gemessen an diesem Maßstab ist nicht hilflos, wer nur in relativ geringem Umfang, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Daraus ergibt sich jedoch nicht schon, dass bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Typisierend ist Hilflosigkeit vielmehr erst dann anzunehmen, wenn der tägliche Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen mindestens zwei Stunden erreicht, was dem Grundpflegeerfordernis für die vormalige Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspricht. Um den individuellen Verhältnissen Rechnung tragen zu können, ist aber nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen; vielmehr sind auch die weiteren Umstände der Hilfeleistung, insbesondere deren wirtschaftlicher Wert zu berücksichtigen. Dieser wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen bestimmt (vgl. BSG, Urteile vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 1/02 R – juris Rn. 14 ff. und vom 24. November 2005 – B 9a SB 1/05 R – juris Rn. 16 f.).

An diesen Rechtsgrundsätzen ändert sich auch nichts durch die durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz vom 21. Dezember 2015 zum 1. Januar 2017 erfolgte Einführung des neuen Pflegebegriffs §§ 14, 15 SGB XI n. F. Auch hier kommt es weiter auf den objektivierten Zeitaufwand an. Erst ab Pflegegrad 4 kann – entgegen der Auffassung des Dr. Q. – grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass generell eine Hilflosigkeit besteht (vgl. BSG, Beschluss vom 27. Dezember 2018 – B 9 SB 5/18 BH – juris Rn. 5; Sächsisches LSG, Urteil vom 10. Oktober 2019 – L 9 SB 143/16 – juris Rn. 54).

Bei angeborenen oder im Kindesalter aufgetretenen Behinderungen ist zudem Folgendes zu berücksichtigen: Mit Erreichen der Volljährigkeit ist insbesondere nicht mehr auf Teil A Nr. 5 d bb VMG abzustellen, wonach bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die für sich allein einen GdB von mindestens 50 bedingen, und bei anderen gleich schweren, im Kindesalter beginnenden Verhaltens- und emotionalen Störungen mit lang andauernden erheblichen Einordnungsschwierigkeiten regelhaft Hilflosigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen ist. Stattdessen muss bei dem Übergang ins Erwachsenenalter berücksichtigt werden, dass die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit auch entfallen können, wenn behinderte Jugendliche infolge des Reifungsprozesses – etwa nach Abschluss der Pubertät – ausreichend gelernt haben, die wegen der Behinderung erforderlichen Maßnahmen selbstständig und eigenverantwortlich durchzuführen, die vorher von Hilfspersonen geleistet oder überwacht werden mussten (vgl. Teil A, Nr. 5 e VMG). Dies bedeutet aber nicht, dass es sich hierbei um einen Automatismus handeln würde. Der Wegfall der Voraussetzungen des Merkzeichens H bei Eintritt der Volljährigkeit bedarf vielmehr – wie der Kläger zu Recht ausführt – stets einer Einzelfallprüfung. Verbleibende Zweifel gehen in Anfechtungsfällen der vorliegenden Art zu Lasten des Beklagten, weil dieser sich – anders als wenn eine erstmalige Erteilung des Merkzeichens beantragt wäre – auf eine eingetretene Änderung der Verhältnisse beruft.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze gelangt der Senat indes zur Überzeugung, dass vorliegend die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H mit Eintritt der Volljährigkeit des Klägers und damit auch für den hier streitigen Zeitpunkt ab dem 1. August 2019 nicht mehr erfüllt sind.

Der Kläger beruft sich im Wesentlichen auf seine eingeschränkte soziale Interaktionsfähigkeit, seine Unfähigkeit, auf plötzlich eintretende unvorhersehbare Ereignisse flexibel reagieren zu können sowie seine verhältnismäßig schnelle Erschöpfbarkeit im Laufe des Tages. Als Hilfestellung benötige er die Impulsgabe von außen und die ständige Bereitschaft einer Hilfsperson in Form von zumindest telefonischer Erreichbarkeit.

Zur Überzeugung des Senats ist der Kläger tatsächlich auf Hilfestellungen angewiesen, dies allerdings nur gelegentlich und nicht in erheblichem Umfang.

Dies zeigt zunächst der Umstand, dass der Kläger bereits seit 2018 Student der Informatik an der Hochschule I. ist. Das Studium wird trotz der Asperger-Diagnose gegenwärtig fortgeführt. Obwohl ein Universitätsstudium in weiten Teilen selbständig organisiert werden muss, ist es dem Kläger trotz seiner Einschränkungen weiterhin möglich. Zudem fand – jedenfalls im hier relevanten Zeitpunkt – der Unterricht in Präsenz statt, so dass der Kläger regelmäßig mit einer Vielzahl von Menschen konfrontiert war. Dass der Kläger hier der dauerhaften Hilfestellung durch Dritte bedurfte, wurde schon nicht vorgetragen. Auch benötigte der Kläger weder eine Sonderbetreuung noch eine sonstige pädagogische Förderung.

Weiter berücksichtigt der Senat, dass es dem Kläger möglich war, mit seinem eigenen Wagen zu der etwa 30 Kilometer entfernten Hochschule zu fahren. Ausweislich des Pflegegutachtens führt der Kläger seinen eigenen Wagen sicher und betankt diesen selbständig. Soweit die Mutter des Klägers im Rahmen der Pflegebegutachtung und gegenüber Dr. Q. angab, dass der Kläger die Gefahren und Risiken des Straßenverkehrs nicht einschätzen könne, stellt dies kein Kriterium dar, das eine Hilflosigkeit bedingen könnte. Denn tatsächlich führt der Kläger sein Auto selbständig. Jedenfalls sind schon keine Verkehrszwischenfälle dokumentiert, obwohl der Kläger als Autofahrer nunmehr seit Jahren regelmäßig am Verkehr teilnimmt. Auch die vom Kläger gegenüber dem Sachverständigen Dr. O. getätigte Angabe, bereits Autos „geschnitten“ zu haben, belegt keine relevante Überforderung im Straßenverkehr. Insoweit muss auch berücksichtigt werden, dass der Kläger seinen Führerschein erst seit 2017 besitzt und jedenfalls in den Jahren 2018/2019 noch als Fahranfänger einzustufen war. Dass er in 2020 in einen Unfall verwickelt war, belegt ebenfalls keine Einschränkung im Straßenverkehr, da der Unfall nach Angaben des Klägers unverschuldet war. Insoweit hat der Sachverständige Dr. O. auch zutreffend darauf hingewiesen, dass dem Kläger – bei einer permanenten Überforderung – die Fahrerlaubnis schon nicht erteilt worden wäre und im Übrigen wäre eine umgehende Rückgabe der Fahrerlaubnis für ein Kraftfahrzeug angezeigt, sollte der Kläger die Gefahren und Risiken des Straßenverkehrs tatsächlich nicht einschätzen können.

Gegen eine Hilflosigkeit des Klägers wertet der Senat auch den Umstand, dass Alltagsroutinen weitestgehend selbständig bewältigt werden. Dies hat bereits der Kinder- und Jugendarzt L. in seinem Befundbericht angegeben. Ausweislich des Pflegegutachtens und der gegenüber dem Sachverständigen Dr. O. getätigten Angaben hilft der Kläger zu Hause im Haushalt, übernimmt Aufgaben im Bereich der Küche (Tisch decken, abräumen, Geschirrspüler bestücken) und versorgt die Haustiere. Er geht seinem Hobby (Computerspiele) nach und kann sich hier über einen längeren Zeitraum selbständig beschäftigen. Auch wenn Hilfe beim Einkauf benötigt wird oder die Impulsgabe für Alltagsarbeiten erforderlich ist, ist nicht ersichtlich, dass dieser Förderbedarf besonders zeitaufwendig ist oder sich besonders schwierig gestaltet. So werden beispielsweise keine Weigerungshaltung, kein sozialer Rückzug und auch keine Aggression als Reaktion auf Anweisungen beschrieben. Vielmehr erledigt der Kläger die ihm gestellten Aufgaben dann ohne Auffälligkeiten.

Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger wenig kommunikativ und schüchtern ist und ein starker sozialer Rückzug besteht. Entsprechend hat der Beklagte dem Kläger auch einen GdB von 70 zuerkannt, um diese Beeinträchtigungen auszugleichen. Aber auch wenn das soziale Umfeld des Klägers begrenzt ist – gegenüber dem Sachverständigen Dr. O. gab der Kläger an, gegenwärtig zwei Freunde zu haben –, so verfügt der Kläger über ein solches. Ferner war es ihm möglich, nicht nur eine Fahrgemeinschaft mit einem Mitschüler zu bilden oder in der elften Klasse ein Praktikum in einem kleinen Unternehmen zu absolvieren. Auch besuchte er zur Vorbereitung auf das Abitur eine Lerngruppe. Die Pflege von Kontakten und Freundschaften ist mithin – wenn auch eingeschränkt – entgegen den Angaben der Psychologin P. möglich. Der familiäre Kontakt wird aufrechterhalten und nicht gemieden.

Soweit der Kläger vorträgt, dass er bei Eintritt unvorhergesehener Geschehnisse stets die Hilfe Dritter – allen voran seiner Eltern – benötige, um die aufsteigende Panik zu unterbinden, ist nicht ersichtlich, dass hier von einem dauerhaften Zustand auszugehen ist. Auch wenn Ängste und Angstattacken bestehen (vgl. Pflegegutachten), ist ein bedarfsweises Einwirken in Form von beruhigenden Gesprächen, auch über Telefon, ausreichend. Nicht erforderlich ist hingegen eine permanente Verbindung mit Dritten, obwohl bereits die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln – nach allgemeiner Erfahrung – nicht nur ausnahmsweise mit Unregelmäßigkeiten verbunden ist. Gleiches gilt für die Teilnahme am Straßenverkehr mit dem eigenen Fahrzeug. Dennoch ist es dem Kläger seit Jahren möglich, alleine mit dem Auto oder aber mit ihm bekannten Linien der öffentlichen Nahverkehrsmittel zu der etwa 30 Kilometer entfernten Universität (und zuvor zu seiner Schule) zu fahren. Ein erheblicher engmaschiger Hilfebedarf ist damit nicht ersichtlich.

Schließlich vermag das Sachverständigengutachten des Dr. Q. den Senat nicht von einem anderen Ergebnis zu überzeugen. Der Senat hat seit Jahren in verschiedenen Fällen beobachtet, dass die Feststellungen des Dr. Q., der in früheren Jahren durchaus beachtliche Sachverständigengutachten gefertigt hatte, seit einiger Zeit unbrauchbar sind. Er hat nicht nur häufig die Vorgaben der VMG nicht eingehalten, sondern in mehreren dem Senat bekannten Fällen gerade im neurologisch-psychiatrischen Bereich – aber auch auf anderen medizinischen Fachgebieten – überhöhte Einschätzungen abgegeben, teilweise auch Phantasiediagnosen gestellt, die weder von anderer Seite bestätigt worden sind noch plausibel oder belastbar waren. Die Überzeugungskraft seines Gutachtens ist entsprechend gering und eine richterliche Überzeugung vom Bestehen eines entsprechenden Umfangs der vorgebrachten Funktionsstörungen ist daraus nicht herleitbar. Aus einer Vielzahl von Verfahren mit Beteiligung von Dr. Q. als Sachverständigem drängt sich in Bezug auf seine nahezu stets unkritischen und für die Antragsteller besonders günstigen Bewertungen der Eindruck auf, dass Dr. Q. zur Einnahme einer unparteiischen und kritischen Betrachtungsweise, wie sie für einen neutralen Gerichtssachverständigen selbstverständlich sein sollte, mittlerweile nicht mehr in der Lage ist. Die Sachverständigengutachten des Dr. Q. sind regelmäßig und auch im vorliegenden Fall nicht geeignet, den Senat von der Richtigkeit der dort getroffenen Feststellungen und Einschätzungen zu überzeugen.

Bereits die anamnestischen Angaben sind vorliegend schon nicht klar dem Kläger zuzuordnen. Die im Rahmen der Begutachtung anwesende Mutter hat ebenfalls Ausführungen gemacht, die Dr. Q. unter dem Punkt „Jetzige Beschwerden“ eingepflegt hat, ohne dass eindeutig erkenntlich wird, welche Aussagen dem Kläger und welche der Mutter zuzuordnen sind.

Soweit Dr. Q. auf eine Diagnose des HNO-Arztes Dr. N. im Jahr 2020 (auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung) verweist, sind – unabhängig von der Frage, ob diese Diagnose fachfremd zum HNO-ärztlichen Bereich ist – weitere Ermittlungen nicht erforderlich, da die Diagnose schon nicht in dem hier relevanten Zeitraum gestellt worden ist.

Jedenfalls gelangt Dr. Q. selbst zu dem Ergebnis, dass der Kläger die Verrichtungen der Grundpflege selbständig beherrsche und im Laufe des Tages lediglich Impulsgaben benötige (S. 29 seines Gutachtens).

Auch die telefonische Rufbereitschaft der Eltern führt – wie auch Dr. Q. selbst ausführt – nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens H. Das BSG hat in seinem Urteil vom 12. Februar 2003 bereits ausgeführt, dass bei der Anrechnung von Bereitschaftszeiten grundsätzlich nur solche Zeiten berücksichtigt werden können, die zeitlich und örtlich denselben Einsatz erfordern wie körperliche Hilfe. Dies setzt voraus, dass eine entsprechende einsatzbereite Anwesenheit und Aufmerksamkeit aus gesundheitlichen Gründen notwendig ist (B 9 SB 1/02 R, juris Rn. 20 m. w. N.). Allgemeine Einschränkungen der Orientierungs- und der Kommunikationsfähigkeit machen hingegen nur gelegentliche Hilfeleistungen erforderlich und bleiben daher außer Betracht (BSG, Urteil vom 8. März 1995 – 9 RVs 5/94 – juris). Vorliegend sind nur gelegentliche Hilfeleistungen erforderlich. Insbesondere bedarf es in den von dem Kläger geschilderten Situationen nicht der physischen Anwesenheit der Eltern oder einer sonstigen Hilfsperson. Um den Kläger in einer ihn überfordernden Situation zu helfen, reicht ein verbales Einwirken in Form eines Anrufs aus. Dies ist weder gleichzusetzen mit dem Einsatz körperlicher Hilfe noch ist die dauernde Bereitstellung erforderlich. Der Senat verweist insoweit auch auf Teil A Nr. 4 d VMG, wonach Hilfe bei einzelnen Verrichtungen, selbst wenn sie lebensnotwendig sind und im täglichen Lebensablauf wiederholt vorgenommen werden, nicht ausreichen. Als Beispiel wird hier etwa die notwendige Begleitung bei Reisen und Spaziergängen und Hilfe im Straßenverkehr aufgeführt.

Aber auch die Ausführungen des Dr. Q. zum Ausmaß der bei dem Kläger vorliegenden Kommunikationsstörung überzeugen nicht. Dabei verkennt der Senat nicht, dass im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen für das Merkzeichen H auch die Möglichkeit zur Kommunikation als Verrichtung zur Sicherung der persönlichen Existenz zu berücksichtigen ist (vgl. Teil A Nr. 4 c VMG). Dies muss mithin – entgegen der Auffassung des Dr. Q. – nicht höchstrichterlich geklärt werden. Unter Würdigung der vorliegenden Unterlagen gelangt der Senat jedoch zur Überzeugung, dass der Kläger insoweit keiner erheblichen Hilfestellungen bedarf, sondern es ihm durchaus möglich ist, mit Menschen zu interagieren. Auf die obigen Ausführungen wird insoweit verwiesen. Zudem beschreibt Dr. Q. selbst zwar ein extrem schüchternes Verhalten, alle Anweisungen seien aber prompt und korrekt umgesetzt worden. Dies deckt sich mit den Angaben der den Kläger behandelnden Psychiaters M., wonach sich der Kläger im Kontakt schüchtern, bisweilen abweisend zeige. Auf direkte Ansprache reagiere er dann aber freundlich. Es bestehe eine ausreichende Schwingungsfähigkeit. Der fachärztliche Sachverständige Dr. O. beschreibt den Kläger darüber hinaus als höflich und kooperativ bei guter Rapportfähigkeit. Der Kontakt habe hergestellt werden können. Der Kläger habe durchweg ruhig, klar und differenziert berichtet. Hingegen muss der Kläger nicht ständig motiviert, angeleitet oder kontrolliert werden. Auch ein aggressives Verhalten wurde zu keinem Zeitpunkt beschrieben (zur Annahme eines erheblichen Kommunikations- und sozialen Defizits bei Asperger-Syndrom: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. Juni 2011 – L 11 SB 374/09 – juris Rn. 34).

Weitere Ermittlungen von Amts wegen – insbesondere die Vernehmung der Mutter des Klägers – waren daher nicht erforderlich. 2.

Auch ist nach Überzeugung des Senats die Entziehung des Merkzeichens B gerechtfertigt.

Rechtsgrundlage für die Zuerkennung des Merkzeichens B sind § 229 Abs. 2 i. V. m. § 152 Abs. 1 und 4 SGB IX in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das BTHG. Gemäß § 229 Abs. 2 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Die Feststellung bedeutet nicht, dass die schwerbehinderte Person, wenn sie nicht in Begleitung ist, eine Gefahr für sich oder für andere darstellt.

Gemäß den in den VMG niedergelegten Grundsätzen für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen B (Teil D Nr. 2 b VMG) ist bei der Prüfung der Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen) zu beachten, ob diese bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z. B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, Menschen mit geistiger Behinderung sowie Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist (Teil D Nr. 2 c VMG).

Das Merkzeichen B kann dabei nur Menschen zuerkannt werden, bei denen auch die Voraussetzungen für die Merkzeichen G, Gl oder H vorliegen (Senat, Urteil vom 14. April 2021 – L 13 SB 46/20 – juris Rn. 29; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 9. August 2012 – L 10 SB 10/12 – juris Rn. 15). Dies folgt aus dem Zusammenhang der Vorschriften in § 228 Abs. 1, 6 SGB IX sowie aus Teil D Nr. 2 b VMG. Auf die Verzahnung der Merkzeichen G und B hat bereits das BSG in seinem Urteil vom 11. November 1987 (9a RVs 6/86 – juris Rn. 11 ff.) hingewiesen. Ohne Zuerkennung des Merkzeichens G kommt die Zuerkennung des Merkzeichens B demnach nicht in Betracht (BSG, a. a. O.; ferner Urteile vom 13. Juli 1988 – 9/9a RVs 14/87 – juris Rn. 10 und vom 6. September 1989 – 9 RVs 1/88 – juris Rn. 18).

Vorliegend erfüllt der Kläger jedoch schon keines der vorgenannten Merkzeichen. Hinsichtlich der Merkzeichens H wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Das Merkzeichen Gl kommt schon in Ermangelung einer geltend gemachten einschlägigen Beeinträchtigung nicht in Betracht. Darüber hinaus liegen bei dem Kläger auch nicht die Voraussetzungen für das Merkzeichen G vor.

Nach § 228 Abs. 1 S. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 152 Abs. 5 SGB IX Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr i. S. des § 230 Abs. 1 SGB IX. Nach § 229 Abs. 1 S. 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d. h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D Nr. 1 b VMG). Nähere Umschreibungen für einzelne Krankheitsbilder und Behinderungen enthalten darüber hinaus Teil D Nr. 1 d (Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bzw. innere Leiden), e (hirnorganische Anfälle) und f (Störungen der Orientierungsfähigkeit wegen Seh- und/oder Hörbehinderung oder geistig behinderten Menschen) VMG. Keines der dort konkret gelisteten Krankheitsbilder liegt hier vor. Darüber hinaus können auch psychische oder psychosomatische Störungen, die sich spezifisch auf das Gehvermögen auswirken, zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr führen und zwar auch dann, wenn sie Anfallsleiden oder Orientierungsstörungen nicht gleichzusetzen sind (vgl. BSG, Urteil vom 11. August 2015 – B 9 SB 1/14 R – juris Rn. 17 ff.). Vorliegend führt das bei dem Kläger bestehende Krankheitsbild jedoch nicht zu gleich schweren Auswirkungen auf die Gehfunktion und die zumutbare Wegstrecke wie bei dem in Teil D Nr. 1 VMG beispielhaft aufgeführten Personenkreis. Eine Einschränkung des Gehvermögens, aufgrund derer der Kläger nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, ist weder geltend gemacht worden noch ergibt sich eine solche nach Aktenlage. Denn tatsächlich kann sich der Kläger fortbewegen. Dass er gelegentlich Hilfestellungen benötigt, wenn unerwartete Ereignisse eintreten, ist nicht gleichzusetzen mit einer grundsätzlichen Einschränkung des Gehvermögens.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor.



Versorungsmedizinische Grundsätze
in der Fassung der 5. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung